Mittwoch, 2. September 2009


Meine Wege über die
früh gealterten Himalayas . . .


Bild 02:  Der Berg Chomo Lungma von Norden
(Berg Everest)

Bild 03: in Spiti


Über alle meine Blogs findet ihr eine Liste unter
http://mein-abenteuer-mein-leben75.blogspot.com/

Organisation und Inhaltsverzeicnis der gesamten Tibet-Berichte seht ihr unter
http://mein-tibet-organisation.blogspot.com/ 


Die gegenwärtige Seite steht hier: http://mein-tibet-eins.blogspot.com/



von Aryaman Stefan im August 2009




Vorwort: Meine Wanderung nach Tibet in ein oder zwei Tausend Jahren: eine utopische Geschichte. Mit dem Utopischen bin ich frei von der heutigen (2009er) Situation, nur nicht frei von den meisten natürlichen Gegebenheiten. Vieles wird sich im Leben und in der Kultur geändert haben, wahrscheinlich viel mehr als ich es heute ahnen kann. Manches kommt typisch tibetisch in meine Fantasie hinein, anderes ist neu, manches europäisch. Meiner Hoffnung für die Zukunft Tibet´s entsprechend kommen das Chinesische oder das indisch-Brahmanische oder das Westliche wenig vor. Vom Chinesischen  erhoffe ich mit Kraft ein Wieder-Zugehen auf das Tibetische, damit es sich erholen kann von den Qualen und Abwehrkämpfen der jetzigen Zeit und uns Menschen ein freies spirituelles Vorbild bleiben kann. Ich erhoffe für uns, daß das Chinesische wieder leichter wird und den Völkern unter seinem Schutz Gelegenheit gibt, der Menschheit aus ihrem kostbaren, alten Schätzen der spirituellen Erfahrungen abzugeben. Das wäre eine wirklich große Aufgabe für China!

Diese ganze Schrift wird sehr dilletantisch bleiben, da ich wenige Kenntnisse über Tibet habe — in jeder Hinsicht. Dennoch, ich wag´s, weil´s Spaß macht und manche Hoffnung ausdrückt.

Mein geringes Verständnis des buddhistischen Lebens heute und in tibetischer Zukunft und meine einfachen Wünsche an die tibetische Kultur kommen hier rein. Und die Hoffnung, daß sich die tibetische Religiosität und Kultur trotz des riesigen und lärmenden und lähmenden Einflusses aus dem China der Jahrzehnte um das Jahr 2000, und aus dem Westen in den Jahren danach, erhalten möge. Und daß die tibetische Religiosität uns Nicht-Tibetern (auch den kulturell gestimmten Chinesen) helfen möge, einen seelisch sauberen Menschen-Weg zu gehen. Denn ich befürchte, daß wir Menschen in den nächsten Jahrzehnten auf der ganzen Erde verkommen werden — auch im heutigen China. Ein Ausweg aus dieser menschengemachten Bedrohung scheint mir zu sein, spirituell zu reifen (seht den 20. Bericht: „über die Verantwortung ...“ im Blog „Mein Tibet — Abschnitt VI“), und da habe ich große Hoffnungen auf Kulturen wie der tibetischen — Und an Euch Chinesen: auch von Eurer Kultur erhoffe ich sehr vieles, was uns aber in dieser Zeit um 2009 weitgehend verborgen ist.

Ihr werdet euch vielleicht wundern, wie anders in diesem Zukunftsbericht Frauen und Männer beziehungsweise Jungen und Mädchen miteinander umgehen — der Mann ist nicht über alles andere erhaben, wie es heute in Asien meistens ist. Das Verhältnis zwischen Frau/Mädchen und Mann/Junge wird gewiß nicht mehr so sein wie noch heute — in der Nachfolge des alten Patriarchats, wie auf fast der ganzen Erde. Jean Gebser (1905-1973) hat bereits in den 1970er Jahren viel darüber geschrieben und nannte diese neue Phase des vollen Ausgleichs von Mann und Frau (und anderen alten Gegensätzen) das „Integrat“. Ich selbst kann in meiner Vorstellung kaum weiter gehen, aber gewiß wird noch sehr viel Neues kommen in der kulturellen und sozialen Evolution der Menschheit — hierüber gibt es große Diskussion in der Zeitschrift „What is Enlightenment?“/„EnlightenNext“ unter dem Stichwort „Spiral Dynamics“ (Don Beck), das habe ich aber mangels Vorstellungsvermögen nicht ausführen können.

Bitte lest meinen Bericht in weicher und aufnehmender Stimmung — nicht scharf urteilend oder vergleichend oder kritisierend.

Noch nie bin ich in Tibet gewesen, auch kenne ich nur wenige Tibeter persönlich. Das meiste stammt aus der Literatur und aus Landkarten und ähnlichem.

Diese Geschichte ist utopisch in dem Sinne, daß ich vieles von mir Erwünschte geschrieben habe. Die Bilder stammen aus eigener Feder, sie stellen die von mir erahnte und idealisierte Zukunft dar.

Die ganze Geschichte ist hier in sechs Blogs dargestellt: "Mein Tibet — Abschnitt I" und folgende. Genaueres über die Organisation steht im Blog http://mein-tibet-organisation.blogspot.com/

Zwei Karten und die Bilder-Liste sind am Schluß des Blogs "Mein Tibet — Abschnitt VI"






Mein Weg in den Norden über die früh gealterten Himalayas — die Schneeberge


— von Aryaman, am 2. September 2009 —

die Geschichte beginnt hier


„. . . ein Wesen, das seine Leidenschaften
und Begierden abgelegt hat,
das sich der Geheimnisse des Universums
vollständig gewahr geworden ist —
in ihm soll mein Geist für immer wohnen!“


(zitiert nach Mahavira, Indien)


. . . jemand hatte diese Worte lange vor den heutigen Tagen in den Felsen gemeißelt, in eleganten alt-tibetischen Zeichen, die ich sorgfältig abzeichne und mir später von Kundigen in modernes Tibetisch übersetzen lasse. Erst musste ich die herabhängende Moosmatte abheben, denn Wasser tröpfelte über den Felsen, an der Seite aber war ein Teil dieser Zeichen zu erkennen, und so entdeckte ich sie . . .  Vorsichtig lege ich den Moosteppich wieder über den Stein, damit die Pflanzen und Tiere dieses kleinen feuchten Lebensraumes geschützt blieben.

Einen feinenkörnigen Stein haben sie benutzt, Sandstein oder so ähnlich, wie er hier selten ist, wo alles nur aus kristallenen Gesteinen besteht. Tage später betrachte ich mir ein abgebrochenes Stück Fels hinten aus dem Felsen hinter Gyantse (wie diese Stadt bei euch damals hieß), der Berg hinter dem Tempel {Bild 04}, er aber ist anders, er besteht aus orange Kristallen, zwischen denen sich dunklere Stücke befinden wie eine Verschmutzung . . .

 Bild 04: Gyantse (Sukhavati) vom Dzong aus gesehen,
seht die große Buddha-Halle (Tempel)

. . .  aber auch dieser Schmutz gehört dazu, denke ich. Und in den Falten der glänzenden Mineralien glitzert es in feinen Funken auf.

Dieser Stein hier oben aber sieht ganz anders aus — und wie ich mir den ganzen Felsen, an dem der Spruch steht, ansehe, finde ich da Muster wie Schneckengehäuse, zum Teil mehr als handgroß, Versteinerungen. Und dazwischen hatten sie den Spruch so eingemeißelt, daß er wie wie-absichtlich-umrandet von solchen Schneckenbildern aussieht, wie eine absichtliche Verschnörkelung wirkend.
[Die Übersetzer kommentieren: 
was hier geschrieben steht, wird – gerechnet aus der Zeit um des christlichen Jahres 2000 herum – in der fernen Zukunft in ein bis zwei Tausend Jahren geschehen und berichtet werden. Verschiedene Übersetzer und Institute haben die Texte und Bilder in für uns heutige (um 2000 europäischer Zeitrechnung) verständliche Sprache übertragen]



Kapitel EinsAuf dem Weg
Mein Pfad schlängelt sich durch niedriges Gebüsch, einen schroff-felsigen Berg hinunter, ich glaube ich sehe über mir noch alte Ruinen der ehemaligen Festung, Dzong genannt {Bild 04} — und wie der Pfad mich um eine Felsecke führt sehe ich die Stadt vor mir, Gyantse, unten im Tal liegt sie — seht auf das Bild 03 - eine gestreckte, breite Hauptstraße . . .

Bild 05: Die östliche Straße in Sukhavati, Blick auf den Dzong
(Stadtfestung), da oben war mein Pfad

links führt hin zum Tempeltor, dahinter der Tempel, im Grundriss ein kantiges, rechteckiges Gebilde, aber oben eher gerundet, weicher. Er ist groß, rot angemalt, mit einer rosa Kuppel auf dem Dach, darauf eine strahlende Spitze, wie ihr im Bild 10 sehen könnt.

An dieser Stelle aber, in der Nähe des Dzong, zwischen Felsen, Ruinen und Gebüsch bleibe ich ein paar Tage, lege mir meine Decke auf eine magere Grasfläche. Hier sitze ich und
betrachte die Stadt und die Felsen rundherum, und die Talebene dahinter . . .

„ . . .  der seine Leidenschaften
und Begierden abgelegt hat  . . .“

. . .  betrachte die Stadt, Stille in meinem Kopf. Es scheint, daß ich
— fast — angekommen bin, ist meine jahrelange Reise nun zuende?

Nur der Blick nach unten in die Stadt . . . eine heilige Stadt? Gibt es sowas? Gibt es das denn, „heilig“? Wenn ich klar im Kopf bin, muß ich sagen, das ist Unsinn ... doch wenn ich nicht so klar bin, müde, besorgt ... Es sind wohl Begierden, daß ich mich nach Heiligem sehne, ich sehne mich danach, am Heiligen teilzunehmen. Bette mich ein in das Heilige, wenn ich es treffe; kuschel mich fast wie in ein gemütliches Bett — wäre das etwa eine verfeinerte Methode der Suche nach Wahrheit? Zu der ich ja aufgebrochen war, vor Jahren aus meiner Heimat.
 . . . Zweifel . . .

Im Sitzen schlafe ich ein, an den Felsen gelehnt. Er ist noch warm von der Nachmittags-Sonne. Nachts wickele ich mich dann in meine Decke, das Gras duftet, Sterne weit über mir. Wieder Einschlafen, ein Traum: vor mir der Eingang in eine helle Höhle, der weite Raum aus farblosen Kristallen aufgerichtet, doch ich kann nicht hineingehen — noch nicht. Vor dem Einschlafen hatte ich mir das tibetische Schriftzeichen für „a“ [entspricht dem OM im Sanskrit, Bild 05] vor Augen geführt und bin darauf geblieben. Es soll einem ja ermöglichen, das Träumen zu bestimmen und die Themen zu lenken. Doch ich kann es nicht, es fehlt mir eine erhabene Person als Lehrer, ein Lehrbuch allein ist da zu schwach.

 Bild 06: OM-Zeichen „a“ in heutiger tibetischer Schrift

Vieles habe ich zuhause zurückgelassen, wahrscheinlich für immer, auch am Wegrand irgendwo. Loslassen nennt man das auch . . . abschütteln, was alt ist doch noch fest an mir haftet — doch nutzlos oder gar schädlich. Und dies hier unter mir? Wird diese Stadt mein zuhause sein? Nein, die Wanderung wird weitergehen, schon lange ist Sesshaftigkeit nicht mehr mein Sehnen.

Und dann, am Morgen ist es düster, Nebel, das Tal und die Stadt sind unsichtbar, kein einziges Licht zu sehen. Es ist mir sehr einsam, nach all den Wanderungen — eine schmerzhafte Trübsal kommt auf, Melancholie, Leiden, suche ich doch eine Heimat? . . .  allein in diesem dicken und geräuschlosen Nebel, noch lange ehe die Sonne aufgeht. Kein Mensch kommt vorüber, wie sollte auch, es wäre leicht, sich zu verlaufen oder vom Felsrand abzustürzen. Nur meine Eselin, sie kommt und legt sich dicht neben mich, ein Trost, ein winzig kleines zuhause.

Später sammele ich mir ein paar Kräuter, die ich am Feuer trockne und dann rauche, mir wird besser dadurch. Etwas ändert sich nun: ganz weit weg höre ich eine Flöte, ist das echt oder eine dieser Einbildungen, die im Nebel kommen mögen? — oder mit dem Rauchen dieser Kräuter?

Im Morgendämmer entdecke ich ein paar Schritte entfernt eine Blume, eine purpurne Glocke eingehüllt unter ihre niedrigen fest-dunkelgrünen Blätter. Verwundert sehe ich sie an, in diesem Nebel wenigstens etwas Klares, diese Blüte — ein Zeichen für kommende Klarheit im Großen? [Helleborus nennen die europäischen Wissenschaftler der Zeiten um 1800 bis 2100 diese Blume]


Bild 07: der thibetische Helleborus 
beim Aufblühen (von Knorbs)

Bild 08: ähnlich: der abchasische Helleborus

Die Flöte kommt näher, ein Jüngling in einer roten Mönchskutte erscheint auf dem Pfad, sicher alle Abgründe vermeidend. Verliebt in sein Flötenspiel, ohne mich anzusehen geht er weiter, hinunter zur Stadt, und seine Flöte verliert sich wieder im Nebel. Dumpf höre ich Gongschläge, und Glocken vom Tempel herauf. Meine Sehnsucht wird immer größer, etwas aber hält mich fest, ich bin unbeweglich, es ist vielleicht die Angst, anzukommen, endlich — dabei müsste ich doch wissen, wir kommen nie an, die Wege gehen immer weiter (selbst mit dem Tod, so sagen sie hier).

Der Blick wird wieder klarer, der Nebel verschwindet. Die Blume ist nun so klar zu sehen, daß sie mir übergroß erscheint. Auch sehe ich nun die Stadt {Bild 03}.

An der Hauptstraße da unten liegen Häuser und Gärten, die Häuser weiß angemalt, einige rot wie der Tempel, meistens drei- bis vierstöckig. Die Dächer der Stadt sind flach und vom Nebel vorhin noch schwarz glänzend. Links Felder, wohl mit Obstbäumen und Reis bebaut, auch Gerste vielleicht. Auf der Straße sehe ich wenige Menschen, und ein motorisiertes Last-Fahrzeug mit einer großen Rauchwolke kriecht entlang. Hier haben sie noch ein paar Motorfahrzeuge, fast überall sonst auf der Erde sind sie verschwunden, wir kennen sie nur noch aus alten, verschlissenen Bilderbüchern [schon lange gibt es dafür keinen Treibstoff mehr].

Seitwärts noch weitere Stadtviertel, sich ausdehnend zwischen die Reisfelder. Und zwischen den Häusern weite Innenhöfe. Hinter dem Tempel ein niedriger Berg, wie eine aufgestellte Handschale die Stadt halb umgebend, schützend gegen die kalten Nordwinde. Auf dem kahlen Kamm des Berges ein paar einzelne, eckige, große Steine — da muß mal eine Mauer gewesen sein, nun verfallen. Jemand hat dort ein Feuer gemacht, ich sehe nur den Rauch, bereitet sich vielleicht einen heißen Tee? Oder ist es ein Opferfeuer, einer Gottheit zugedacht? Das Land ist mir noch sehr fremd, ich kenne die Sitten nicht. So viele Sitten, sowas habe ich noch nirgendwo auf meiner Reise gesehen.

Nur von der Sprache weiß ich schon einiges, bin auf den Wegen hierher viele, viele Tage mit einer Frau aus dieser Gegend zusammengewandert, und sie war meine Lehrerin. Sie aber wollte nichts von mir lernen, was hätte ich sie auch lehren können, hatte ich doch so vieles schon abgestoßen, vergessen — vielleicht hat sie gerade DAS gelernt, das Loslassen, Abwerfen. Meine eigene Sprache, zuhause?, ist nun eine verfallene Sprache — viele alte Sprachen sind ja verfallen, weil sie nicht mehr ausgiebig benutzt werden, nur noch für´s Alltägliche, für´s Kleine. Diese Sprache Tibet´s aber, so alt sie ist, ist immer noch frisch, wird mit Achtsamkeit immer gepflegt und erneuert, sagt sie.

Der Tempel, mein Ziel dieser Tage. Er kann noch nicht sehr alt sein, doch diese Stadt soll schon hunderte von Jahren da liegen — was sind mir Jahre? Lange schon trage ich diese altmodischen, kindlichen Zeitrechnungen nicht mehr in meinem Kopf umher, und hier erwähne ich das nur, damit ihr wißt, wie es mit mir bestellt ist. Was sind schon Jahre?

Noch den ganzen Tag und dann noch einen bleibe ich auf meinem Rastplatz, er wird mir schon fast ein wenig zur eigenen Wohnung. Sammele wieder Kräuter zwischen den Steinblöcken zum Essen, und für einen Tee, und zum Rauchen. Den Tempel betrachte ich solange es hell ist, und nachts sind da ein paar winzige Lichter, die mir seine Umrisse zeigen, und oben aus der Kuppel scheint ein schwacher Lichtstrahl zum Himmel — wenn Nebel nicht alles verhüllt. Obwohl der Tempel noch weit weg ist von meinem Platz, höre ich zeitweise — ach ja, was ist schon Zeit? — höre ich die tiefen und auch mal hellen Gong-Schläge. Dazwischen ganz schwach Trompetenschmettern, später Glocken. Sie gehen wohl zur Andacht oder zum Pūdscha [Puja], denke ich.

Das Rot dieses Tempels, ein Hinweis auf das Mönchische in seinen Mauern. Ja, diese Mönche tragen rote Kutten, erfahre ich später, so wie der Jüngling vorhin, auch die Nonnen. Ich habe gehört, daß sie den ganzen Tag lang sitzen und nur so „sind“, nur bewußt sind, sonst nichts, wach sind, Bewußtheit! Das zieht mich an, im Augenblick jedenfalls. Was mir noch kommen wird, weiß ich nicht.


Kapitel ZweiWo ich herkomme
Auch ich trage eine Kutte, eine Wanderkutte, seit Wochen schon eine aus dicker Schafwolle gewalkt, mit Kapuze, alles aus brauner Wolle gefilzt, gefleckt mit Beige, ein wenig Tarnfarbe, damit mein Weg nicht so auffällig ist. Denn ich wandere einen von Fremden nicht viel begangenen, einsamen Weg herauf aus den meist flachen Ländern Uttar, Bihar und Bengalen, die im heißen, nördlichen Indien liegen, in dieses unbekannte Land, das die Leute bei mir zuhause früher Tibet nannten. In meiner Heimat hatte ich irgendwo alte, zerrissene Bücher und darin diesen Namen gefunden, und jemand aus der Kandira-Akademie in dem kleinen Städtchen in der Nähe meines Dorfes hat mir einiges in unsere neue Sprache übersetzt, es war geschrieben in den uralten Zeiten in eurer Spache, dem Deutsch der Jahrhunderte der großen Kriege und der fliegenden Maschinen — und schließlich des großen, tödlichen Mangels, weil alles verbraucht und verschmutzt war. Jahrhunderte des Elends bis wir neue Wege des Lebens und der Liebe fanden. So war die Vergangenheit auf der Erde, fast überall, in Tibet wohl nicht anders.

Dieses soll eine, ja meine Pilgerfahrt werden, auf der Suche nach dem Heiligen vergangener Tage, nach dem, was unsere alten Schriften den Buddha nannten, oder den Mahavira, oder den Tathaagata, oder Milaraspa. Ich suche nach den Quellen unseres Geistes, nach jenen alten Traditionen, die noch die Klarheit und Reinheit pflegen. Denn wir im Westen verehren zwar den Buddha, doch er ist uns ziemlich verschwommen, immerhin hat er vor sehr langer Zeit gelebt, und viel Geschichte und Ranken und Verwandlungen und Verzierungen haben seine Lehre — vielleicht — verwischt. Ich suche nach dem Klaren, das sie hier noch pflegen sollen, in versteckten Ecken dieses Landes. Wie gesagt, wir nannten dieses Land früher Tibet.

„ . . .  der seine Leidenschaften
und Begierden abgelegt hat  . . .“

Wer ist dieses Wir? Ich denke an meine Vorfahren und die Familie, aus der ich stamme. Die in Europa zuhause sind, einem Zipfel dieser Erde, weit weg von hier. Wo ich aufgewachsen bin, doch selbst das ist mir schon recht lange her. Jene Gegend in Nord-Europa, ein Land voller Blumen im Sommer und Schnee im Winter. Ein stilles Land — wenn ich es vergleiche mit den immer wieder dröhnenden und krachenden Himalayas hier. Als ich vom Norden Europas aufgebrochen bin, waren meine Haare noch braun, nun haben sie schon viel Grau — Ihr seht, ich bin schon lange unterwegs, manchen Winter, manchen Sommer. Neulich habe ich einen Spiegel gefunden: jemand hatte eine kleine, schwarze Felswand ganz fein poliert und eine dünne Wasserwand darüber geleitet: der Spiegel. Und meine Haare sahen darin recht grau aus, sogar der Bart schon. Ich ziehe mich aus und betrachte meinen Körper, noch alles in Ordnung nach dem letzten Spiegel? Ja, und immer noch kräftig und sogar braun, trotz seines Alters. Bin tagsüber auch oft nackt gewandert, dort im heißen Süden der Ebenen von Uttar und Bihar. Nur an manchen Tagen ein leichtes Tuch umgelegt, wenn zu viele Leute da waren. Doch an anderen Tagen habe ich niemanden getroffen, dieses Indien ist arm an Menschen und reich an Gebüsch und Wald, auch Steppen und Wüste.

Wälder mit besonderen Bäumen, die zu Zeiten übersät sind mit großen, roten Blüten.

Europa, ein Land voller grauer Ruinen, wo einst viele Menschen wohnten, doch das ist fast vorüber, ich habe gehört, damals ging ihnen alles aus: die Energie für die Werkstätten, die Erze, die Fruchtbarkeit des Erdbodens für die Nahrung, die Klarheit des Wassers, die Schönheit der Luft, ja selbst ihre Gesundheit, ja sogar der Gesang der Vögel im Frühling, der dadurch sehr still wurde — und das Schlimmste: der Friede ging verloren, und sie haben sich gegenseitig alles zerstört und einander getötet und wieder getötet und gequält. Das ist zwar lange her, steckt aber noch in unseren Erinnerungen, selbst wenn keiner darüber reden mag.

Die Vögel sind schließlich wiedergekommen mit ihrem Gesang, auch die bunten Schmetterlinge und Blumen. Sonst blieb alles verloren. Wir leben da in jenem Europa-Land in kleinen Dörfern und ein paar Städtchen, und wir ernähren uns von den Ernten aus kleinen Gärten und Feldern, die wir fruchtbar gemacht haben, sie liegen zum Teil zwischen den Ruinen — und fett oder gar reich wird dabei niemand —, erwärmen uns an den Feuern, die wir nähren mit dem Holz der wilden Gestrüppe und Wälder — das einzige, was nie fehlt —  . . . und denken an den Einen, den Buddha. Doch wer das ist, weiß kaum jemand, und ob die Aussagen stimmen, mag ich nicht entscheiden. Also habe ich mich auf die Suche nach den Quellen gemacht.

Nun lest Ihr meine Worte vielleicht, doch Ihr lest sie in der „deutschen Sprache“, die uns Heutige schon lange verschwunden und ausgestorben ist. Was ich später in der heutigen tibetischen Sprache zusammengeschrieben habe, gebe ich in eine wissenschaftliche Akademie in Gyantse, wo sie die alten, klassischen Sprachen noch lesen und sprechen können. Ich bitte sie, alles zu übersetzen ins Deutsche und die alten, euch verständlichen Orte- und Länder-Namen einzusetzen ... damit ich euch Früheren, die ihr im alten, ehemaligen, nun verloren gegangenen Europa lebtet, . . . damit ich euch Nachricht geben kann über meine Erlebnisse und Erfahrungen, die — aus eurer Sicht — einmal in der Zukunft sein werden — eine Nachricht, die aber von mir aus rückwärts in der Zeit erstattet wird — wie gesagt, ich bin nun ein oder zwei Tausend Jahre später als ihr damals.

Denn die in der Akademie in Gyantse werden den Text dann zeitlich rückwärts an euch versenden — eine technische Kunst, die sie noch beherrschen, die sonst aber längst verloren gegangen ist, sogar hier in Tibet. Und in einem selbst für euch schon alten Kloster der Franziskaner in eurem damaligen Deutschland wird das dann gedruckt und auf den Markt gebracht, wie ihr das nanntet. Mal sehen, wie das gehen wird. Und nun könnt Ihr lesen, was ich erlebt haben werde.

Dieses umständliche Versenden durch die Zeiten und Übersetzen wird manches in meinem Text undeutlich machen, auch habt ihr für Vieles, was heute während meiner Reise ist, ein anderes — oder noch gar kein — Verständnis. Dennoch versuche ich es, denn selbst das Undeutliche in meiner Nachricht kann bei euch noch Neugier erwecken und die Lust, Neues zu beginnen in euren Zeiten, die lange vor den meinen liegen, wohl ein paar tausend helle und dunkle Jahre vorher.
[Bemerkung der Übersetzer in Gyantse: 
es ist in der Tat schwer, den Text des Autors in diese alte, deutsche Spache des damals so genannten einundzwanzigsten Jahrhunderts zu übertragen, besonders die früher benutzten Orts- und Landesnamen zu finden, doch da hilft uns oft ein Bündel von Handskizzen, die der Autor während seiner Reise gemacht hat. Es bleibt unklar, ob uns die Wiedergabe der Stimmung in dieses alte und etwas steife Deutsch eurer Jahre gelungen ist]


Kapitel DreiDie Wege über die Pässe
Die Reise über die Pässe der Himalayas (hier sagen sie Hima-Tschal, das Schneegebirge) geht mir durch die Gedanken.

Ich wandere entlang der einsameren Pfade, die meistens nur von den Schafskarawanen benutzt werden, die das kostbare Salz aus dem Norden nach Indien bringen — und ihren eigenen Körper, denn sie werden in den schrecklichen Schlachthöfen Bengalens alle geschlachtet, einige auch in riesigen Tempeln der alten Göttin Kali dargebracht und ihr Kehle zerschnitten, eine sehr veraltete Opfertat, denke ich schaudernd, die auch aussterben wird, hoffe ich sehr. Ich denke mir, eine so blutige Opfertat für die Göttin hinterlässt auch Blutkrusten in der Seele der Gläubigen, macht sie krank. Ja, „Gläubige“: ich denke, sie glauben ohne zu erkennen, ohne tatsächlich zu erfahren, was es mit der Göttin auf sich hat — oder vielleicht ist sie tatsächlich so blutig? Vielleicht ist sie Symbol der Blutrünstigkeit der Menschen, der Gläubigen der Göttin, und durch diese Opfertat wird es ihnen gewahr? In der Nähe eines dieser blutigen Tempel traf ich einen alten Bengalen, dem ich meine Abscheu äußerte. „Laß den Leuten doch ihre Art, du brauchst dich ja nicht zu beteiligen,“ sagte er nur.

Noch ein paar Pilger aus Europa gehen meinen Pfad, die ihr Land der Sehnsucht suchen, Tibet, das Land der Reinen Lehre. Andre ziehen die größeren Pfade des Nordens vor, wo sie sich sicher fühlen. Doch was ist schon Sicherheit? Mangel an Risiko, sage ich mir, auch Mangel an Chancen, sich und alles wirklich kennen zu lernen. Mangel an Gelegenheiten, zu reifen.

Nicht einmal kann ich aber erkennen, ob ich selbst überhaupt wirklich bereit und in der Lage bin, zu wissen oder zu lernen, zu reifen, und was das eigentlich ist — diese „Reine Lehre“. So gesehen ist diese Reise ein Risiko. Doch allein die Erlebnisse . . . sie machen sie wert.

Es wäre aber schade, wenn Polizeiposten mich abhalten würden, weil ich ihnen vielleicht verdächtig wäre, deswegen diese bescheidene Farbe meiner Kutte. In Wirklichkeit sind aber keine Polizeileute erschienen, sie sind wohl eher selten entlang dieses Pfades durch die Wälder und Berge in den Norden. Ach ja, sie haben ja die Grenzen abgeschafft, hat mir jemand schon in Uttar erzählt. Sogar die Länder, die Nationen geistern nur noch in einigen Köpfen, sonst nichts dergleichen.

Eine Kutte ist das beste Kleidungsstück bei einer Wanderung wie dieser: oft muß ich Flüsse durchqueren, und da ist es einfach, die Kutte hochzuraffen, damit sie trocken bleibt — und die nackten Beine können nachher wieder schnell trocknen und — neu eingefettet — in die dicken Strümpfe und in die schweren Schuhe steigen. Doch hoch oben auf den Passhöhen ist es so kalt, daß ich nicht durch die Flüsse gehe sondern versuche, über hineingelegte Trittsteine zu springen. Hineingelegt von früheren Wanderern oder den Wege-Behörden.

In dem Beutel, der durch das Raffen der Kutte entsteht, können alle Sachen aufbewahrt werden solange ich im Wasser gehe, auch die langen Filz-Schuhe. Und die Kapuze schützt vor den Härten des Gebirgswetters, Regen, Schnee, Sturm . . . und Hagel, Hagel, Hagel und bald wieder Hagel. In einer solchen dicken Kutte fühlt es sich locker an, der Körper ist warm von ihr umhüllt, fast wie in einem dickwandigen Zelt. Doch sie reicht nicht in den Eis- und Schnee-Höhen, da muß ich einige lange, wollige Hemden drunter ziehen.

Diese langen und festen Gebirgsschuhe habe ich mir damals machen lassen, als ich schon die südlichen Vorberge der Himalayas im Blick hatte. Sie sind aus Filz und Leder zusammengesetzt. Habe Bauern bei der Feldbestellung und der Pflege der Tiere geholfen und mir damit die Schuhe und die Kutte und Nahrung erdient.

Alleine gehe ich nun diesen Weg von Bengalen herauf, nur die kleine Eselin trägt freundlich und zufrieden meine Decken und Nahrung und Wasser. Sie folgt mir geduldig und rennt nie weit weg. Dennoch binde ich ihr die Vorderfüße etwas zusammen, wenn wir länger an einem Platz bleiben und ich ihr das Gepäck abgenommen habe — ein wenig Sinn für Sicherheit habe ich mir noch erhalten, trotz der Sucht nach Risiken.

Da oben war es eiseskalt im Schatten und brennend heiß in der Sonne. Schnell habe ich mir eine Gesichtsmaske gegen die Strahlung gemacht — wie sie von allen Reisenden hier benutzt wird. Nur wer immer hier draußen lebt, kommt mit einer dicken, schwarzen Fettschicht aus.

Nun am hellen Tag — dem letzten Tag auf dieser Raststelle oberhalb von Gyantse — sitze ich auf meiner Decke und sehe auf den roten Tempel der Stadt hinunter {Bild 10}. Meine Eselin steht nicht weit. Sie wittert leise schnaubend in der Luft und macht mich aufmerksam auf ein paar wandernde Leute, die den Pfad vorüberkommen. Auch sie stiegen vom Gebirge herab, den langen Pfad von Bengalen her, über die schneeigen Pässe und vorher durch die dunstigen und schwülen Regenwälder voller rot blühender Büsche und gieriger Blutegel im Gras und Gebüsch. Nur zehn Tage waren es von diesen Wäldern hoch hinauf zu den Schneepässen, ein steiles Steigen in immer klarere Luft, doch schwer zu atmen, und ich musste langsam gehen, einen langen Stock aus rotem Holz als Stütze, die Eselin als liebe Freundin. Seit ihrer Geburt kennen wir uns, es war im heißen Bengalen, ich habe ihr geholfen, sich aus dem Mutterbauch heraus zu befreien, und seitdem lieben wir uns wie Mensch und Tier sich eben lieben können. Hier in dem kalten Gebirge bekommt sie schnell ein dickeres Fell, so ist sie geschützt.

Entlang der Pfade von Bengalen hinauf in das Schneeland — und auch an tibetischen Wegen — haben sie viele große, steinerne Hütten, Dhak-Hütten genannt, wo ein Übernachten möglich ist, 

 Bild 09: Dhak-Hütte südlich des Nathu-La

und es gibt Nahrung und Schutz für alle, auch die Tiere. Einige Male blieb ich dort ein paar Tage um auszuruhen und meinen Körper an die Höhenluft zu gewöhnen und habe geholfen, die Gärten zu pflegen und die Tiere zu kämmen. Innen sind diese Hütten bunt, an den Wänden Bilder von den Dämonen, denen man hier begegnen kann — damit die Wanderer erkennen, daß alles nur in der eigenen Fantasie besteht, Dämonen gibt es nicht wirklich, „dieses ist doch die Botschaft des alten Buddha: laß dich hinuntersinken durch alle diese Fantasien und schiebe sie zur Seite und finde deinen eigenen Kern, das Wirkliche in dir!“ sagte mir eine Frau, die gerade die Tierställe fegte. Diese Lehre nennen sie Dharma, und so will ich es halten.

Am Abend sitzen wir zusammen bei einem Holzbecher mit Bier, das sie hier brauen, in jedem Haus. Da erzählt sie von einem erleuchtenden Rundblick auf fast die ganzen Himalayas, den ich unbedingt erleben müsse. Tausende von Pilgern aus dem Süden steigen auf den Berg Singalila, nur zwei Tagesreisen von hier. Am nächsten Morgen schließen meine Eselin und ich uns einer solchen Pilgergruppe an . . .  Und drei Tage später, an einem Morgen kurz vor Sonnenaufgang kommen wir auf dem Gipfel an. Wir erwarten das Lichtspiel mit Blick nach Norden und Westen, und schon bevor die Sonne bei uns ist — sie geht rechts von uns auf — leuchten die höchsten Berge strahlend rot, Schnee- und Eisberge. Und innerhalb weniger Atemzüge erscheinen immer mehr Schneespitzen in diesem rot-goldenen Theater — vom fernen Chomo Lungma (ihr seht ihn auch auf Bild 01, allerdings von der tibetischen Seite her) bis ganz nahe zum Kantschenjunga, wie aufgereiht. Auf meiner Skizze habe ich nur diesen letzteren Berg dargestellt. Langsamer sehen wir auch die dunkleren Berge, die etwas niedriger und davor liegen, in den Tälern ist es noch schwarz.

 Bild 10: der Berg Kantschenjunga vom Singhala-Berg aus, 
von Südosten, während des Sonnenaufgangs

Nicht lange, und die Berge sind heller als der dunkelblaue Himmel, das rote Wunder des Sonnenaufgangs ist vorüber.

Ein Pilger dreht sich um und ruft, „sieh mal da unten Bengalen, da ist es alles im rosa Dunst und Nebel“ — nichts ist zu sehen von der bengalischen Tiefebene, ein Gleichnis für die Seele des Menschen? Nebelig in den betriebsamen Ebenen in all ihrem Staub, und hier in den Bergen das Angebot der Natur, die Seele zu reinigen in dieser kristallenen Klarheit.

Hier oben gibt es Großes und Eindrucksvolles zu erleben: im weiter westlichen Gebirge sehe ich Schneestaub und auch den dunklen Staub von zermahlenen Felsen hoch in den Himmel steigen und höre später aus der Ferne zwei Mal dumpfes Rumoren: die Berge zerfallen, die Himalayas scheinen zu altern und zusammen zu brechen. Schon seit langem geht das so — wie mir kundige Leute hier geschildert haben. Erst sind die Himalayas gewachsen, in Millionen von Jahren, hoch auf, zusammengeschoben wie ein Wellenkamm durch den sich nordwärts schiebenden indischen Kontinent, und nun überstürzt sich die Welle ... und die hohen Bergspitzen zerbröseln und fallen herab. Die früher höchsten Berge wie der Chomo Lungma [Berg Everest in alten Zeiten] und der Annapurna sind nicht mehr die höchsten, ihre Spitzen sind zerfallen, zerrüttet von den dauernden Erdbeben, oder besser Felsbeben.

Der Weg, den ich gehen werde, ist aber sicher, der Weg nach Tibet hinauf, vom Städtchen Gangtok her, der letzte größere Ort auf dem Weg von der bengalischen nördlichen Flachebene hierher.

Ich habe auch gehört, daß nun — da die zerfallenden Himalayas Südwinde durchlassen . . . — daß nun die südlichen Monsunwinde mit ihren Regenwolken über die niedriger werdenden Schneeberge steigen können und immer häufiger Niederschläge ins tibetische Land bringen, auch wärmere Luft. Heute sind die Himalaya-Täler und -Matten von Menschen unbewohnt, Menschenleben ist dort mit den vielen Felsbeben zu schwierig geworden, doch früher gab es Dörfer und Klöster, fruchtbare Matten für die Schafe und Ziegen — nun alles überschüttet von den herabstürzenden Felstrümmern. Nur ein paar Pass-Pfade gehen hinüber, und so einen gehe ich, er ist außerhalb der gefährlichen Bergstürze.

Es wird von unseren Bergführern auch erzählt, nicht weit von hier, weiter westlich hatte es eine große Stadt gegeben, umringt von Bergen in einem weiten flachen Hochtal gelegen. Die Flüsse der Gegend flossen durch das Tal hinab in die nordindische Ebene durch eine tiefe Schlucht. Doch eines Tages hat ein großes Beben diese Schlucht verschüttet, und die ganze Talebene lief voll Wasser, und die Leute mussten die Stadt verlassen. Vor diesem Ereignis aber war es die Hauptstadt des Landes dort — Kathmandu in Nepal genannt —, doch danach . . . jenes Land hat fast überall unter den zerfallenden Himalaya-Felsen zu leiden und löst sich langsam auf. Alles wird verschüttet, und wer das überlebt, geht weg.

Im alten Tibet aber wird es immer grüner, Gras wächst nun wo früher Wüste war. Gebüsch und sogar Wald bilden sich, wo früher Grassteppe war. Nicht viele Menschen wohnen in diesen Ländereien, doch möglich ist es, daß aus dem alten Nepal und dem heißen Indien Leute dahinziehen, da es immer verlockender wird, dieses Land mit Gewinn zu bestellen. Sehr kalt soll es in manchen Winterwochen sein, doch eine dicke Schneedecke — die es in alter Zeit nicht so gab, es war zu trocken — schützt den Boden und die Wintersaat vor zu harter Kälte. Und die Wolle der Schafe und Yaks — das sind die tibetischen Rinder, hochgebirgsgewohnt — schützt die Körper der Menschen. Auf dem Bild der Dhak-Hütte seht ihr ein Yak {Bild 06}.

Ein paar Tage später breche ich wieder von der Dhak-Hütte auf, steige hinab ins Tal des wilden und ungebärdigen Tista-Flusses und wandere die alten Wege am Fluß entlang nach Norden, um über einen Pass hinüber nach Tibet zu kommen, es ist da oben alles voller Schnee trotz des Sommers.

 Bild 11: auf der Höhe des Nathu-La, meine Eselin und ich

Dort begegne ich einer Rotte ungezähmter Schafe, wir sehen uns kurz an, und ich sehe schnell woanders hin, um sie nicht zu ängstigen. Sie bleiben stehen, es ist keine Furcht da . . . Jedenfalls für mich sind wir eins, wir gehören zu einem Leben,

„ . . . das sich der Geheimnisse des Universums vollständig gewahr geworden ist  . . .“

Meine Worte sind da etwas tolpatschig ausgedrückt, denn dieses Gefühl der Einheit liegt tief in der Seele, jenseits von Worten.

Immer wieder aber musste ich durch die tiefen Schluchten klettern, wie alle Leute, die hinüber wollen. Manchmal wußte ich nicht, wo es weiter gehen konnte, so eng sind diese Schluchten, und so tief hat sich der Tista-Fluß eingefressen. Und nur die Gewißheit, daß ein Pfad, den ich finde, ja irgendwo hingehen muss, hat mir den Mut gegeben, weiterzugehen. In den Schluchten lärmt es wie sonst an keiner Stelle meines Weges: die stürzenden Wasser und mitgerissenen Felsstücke . . . doch oben auf den Höhen ist es dann so leise — wenn es nicht gerade hagelt oder Schneestürme brausen.

Nur ein paar Mal am Tage treffe ich Menschen auf diesen Pfaden. Meistens sind sie Händler aus dem tibetischen Norden oder Pilger wie ich, die hier entlanggehen, auch auf der Suche nach den Quellen des Geistes. Einige Menschen aus Europa, mit heller Haut wie ich, sind dabei. Sind den langen Weg zu Fuß gewandert, die meisten aber gehen mehr im Norden und am Kaspischen Meer entlang nach Süden und durch das uralte Land der Perser und dann von Norden her nach Tibet, andere wie ich aber über den Bosporus, da gibt es noch Fährboote, die einen übersetzen, mit zerrissenem Segel die Kräfte des Windes spärlich ausnutzend und gegen die Meereströmungen mit splittrigen Rudern ankämpfend.

Denn die Fährboote sind alt, und kaum jemand kann heute mehr neue machen, diese Künste sind uns fast ganz verloren gegangen. Die Überfahrt ist riskant, denn wie oft zerbrechen die Boote auf dem Wasser, und dann diese Wasserströmung, die einen wegschwemmen würde . . . Und auch auf diesem Weg geht es durch das Land der Perser, die schon seit langem ihre alte Kultur mit dem Feuer Gottes wiedergefunden haben, und ihre Lehre ist die des Zoroaster, den sie über fünfzehnhundert, schrecklich unruhige Jahre vergessen hatten.

Ein paar Tage bleibe ich am Bosporus und helfe den Fährleuten, ihre Boote zu reparieren, denn das habe ich früher mal gelernt an den Küsten meines Landes.

Eine Pilgerin sieht die lila Blume neben meinem Lager und sagt, „ja, die habe ich in Abchasien gesehen, wie wir da vor zwei Jahren vorüberkamen auf unserem Weg, da sind sie häufig in den Gebirgswäldern.“

Wo ich gewandert bin, von Gangtok her über die Pässe, sind die Wege an manchen Stellen sehr breit, und dann wieder zugewachsen oder weggeschwemmt oder von herabgestürzten Felsen verschüttet, und ich muß Umwege gehen durch andere Schluchten. Ich habe gehört, daß hier vor Zeiten große Wagen gefahren sind — doch auch ihnen ging der Treibstoff aus, und so sind die Menschen wieder auf ihre eigenen Körperkräfte und die nur halb freiwilligen Dienste der Tiere zurückgeworfen worden, ja lange Tierkarawanen tragen die Handelswaren nordwärts und südwärts über diese Pfade — nur nicht über diesen, der verfallen ist. Manche Pfade sind besser als die alten, zum Teil unterbrochenen breiten Wege und werden von den Behörden gepflegt.

Einige Male sah ich etwas abseits vom Pfad einen Menschen in einer kleinen Hütte sitzen, diese Frauen und die Männer taten nichts, nein, warum sollten sie auch etwas tun? Irgendwann hatten sie sich diese Unterstände gebaut aus Steinen, Baumästen und Tüchern und Grasmatten, ein Feuerchen, eine Lagerstelle.

 Bild 12: die Einsiedelei in den Himalayas

Und in einer Nische das Bild eines Menschen mit übergeschlagenen Beinen sitzend, Blumen davor gelegt oder einen bunten Stein . . . ah, da wurde ich aufmerksam: wer ist das auf dem Bild? langes Zögern, ein langer Blick in meine Augen, „Buddha! - der Shakyamuni.“

Endlich, denke ich, hier ist es. Hier komme ich näher an die Quellen. Wer ist Buddha? Eine Fingerbewegung, setz dich! Meine Aufmerksamkeit ist sehr groß, gespannt, eifrig bedacht nichts zu versäumen. Nach zwei Stunden oder so schlafe ich ein. Wache auf von einem strengen Klaps auf meine Schulter. „Buddha ist . . . “

Stille . . . sehe in die dunklen Augen der Frau, gelassen sind diese Augen, das nach all der langen Wanderung — bin ich schon da? Ja, hier ist es. Warum sollte ich weitergehen. Doch die Einsiedlerin in ihren Lumpen weist mir mit dem Arm den Weg, ich soll weiter gehen, und dann kehrt sie sich nach innen, der Weg geht weiter. Ihrer und meiner. Ihrer? Was weiß ich schon davon.

Und schließlich komme ich an diese Felsenecke oberhalb von Gyantse. Nun angekommen? Doch der Weg geht weiter, nach ein paar Tagen wandere ich langsam hinunter in die Stadt. Da ist eine Stadtmauer, fein und mit bunten steinernen Figuren besetzt. Ein Tor, aber offen, das „Offene Tor“, einladend, keine Türen, nur ein Torbogen, die alten eisernen Scharniere rosten noch in der Wand. Frauen und Männer, auch junge Leute und Kinder stehen da und beobachten jeden Ankömmling, und begrüßen mich nach einigem Hinsehen, sich fragend „wer ist das?“ Es ist sehr feierlich, stehen bleibe ich und sehe ehrfürchtig durch das Tor auf die lange Straße, eine Allee mit hellgrünen Bäumen — und ganz hinten die goldenen Spitzen oben auf dem roten Tempel — dahinter der Berg, der das alles beschützt, geschmückt von grünem Gebüsch und den Steinbrocken oben drauf. Lege meine Hände zusammen vor das Gesicht und verbeuge mich, knie mich hin, als Gruß und Dank . . . daß ich angekommen bin, lege meine Handflächen kurz auf den Boden und zurück an die Stirn. Es ist mir so feierlich in der Seele.

Eine ältere Frau kommt zu mir und geleitet mich einladend in ein kleines Haus — das Wächterhaus? Sie laden mich ein, in ihre Stadt zu kommen und das Haus des Buddha zu sehen, den Tempel. Und dann ein paar höfliche Fragen über meine Herkunft und all das. Sie sagen, „heutzutage kommen viele Leute aus den westlichen Ländern hierher, sie haben schon gehört, daß wir noch die alte Nähe zum Buddha pflegen und seine Regeln beachten und kennen, genau kennen und in Büchern bewahren.“ Ich sage, mir kommt das bei uns aber recht nebelig vor, es fehlt die Klarheit. Deswegen dieser mein Weg. Sie lächelt und verbeugt sich leicht, mit den Händen ihren langen, dunkelroten Rock ein wenig nach hinten schiebend.

Heute und morgen möchte ich mich ausruhen und meinen Körper reinigen, und meinen Geist auch. Ich frage nach einer Herberge und bekomme sie gezeigt, in einer Nebengasse, ein Kind kommt mit und zeigt mir das Haus. Es ist blau und einladend, Blumen in den Fenstern, eine dunkelbraune Holztür, Gemälde von Göttinnen an der Hauswand, auch geschlungene Ornamente wie Girlanden. Die Tür ist uralt, und wie ich später höre, ehren sie das Alte und besonders die Türen, und benutzen sie immer wieder, durch lange Zeitalter hindurch. Selbst wenn das Haus abgerissen wird, dann kommt sie an ein neues Haus {Beispiel Bild 35}.

Im Hinterhof haben sie ein Becken mit Wasser aus einer der heißen Quellen, das sie hierher leiten. Meine Kutte liegt schnell im Gras und ich im Wasser, nach so langer Zeit wieder ein warmes Bad, ich bete, daß Buddha so angenehme Erlebnisse auch hat haben können, aber mir fällt ein, daß sein Land ja ein sehr warmes Land war, Bihar. Ein Junge bringt mir eine Flasche mit Badeöl und dann in einer Schale eine Hand voll duftendes Lehmpulver, und ich reibe meinen Körper mit dem Öl und dann mit dem Pulver ein und wasche später alles mit dem warmen Wasser wieder ab — und seit langem fühlt sich die Haut wieder wie gute Haut an, weich und fast zart.

Naß und nackt setze ich mich auf eine Bank an der Hauswand, nach Süden gerichtet, von wo mich die Sonne wärmt. Der Junge nimmt meine Kutte um sie zu waschen und gibt mir ein dickes orange Tuch, ich soll mich hineinwickeln, doch erst wenn es abendlich kühl wird werde ich es tun. Der Junge setzt sich neben mich, so nackt wie ich. Meine Freundin, die Eselin weidet im Garten und wird von den Kindern gestreichelt und gebürstet und mit besonders guten Kräutern verwöhnt, und sie grunzt genüßlich.


Kapitel VierIn der Stadt Sukhavati, Beginn meiner Studien
Am übernächsten Abend zeigen sie mir den Weg in den roten Tempel mit der großen Glaslinse auf der Kuppel.

Bild 13: der große Tempel in Sukhavati

Ich binde mir das orange Tuch über und wandele langsam und gespannt und ehrfurchtsvoll die Straße entlang, es ist eine Allee aus alt-schönen Ginkgo-Bäumen, und in den Häusern sind Läden mit den Dingen des täglichen Lebens. So tief habe ich mich in diese Stimmung begeben, daß ich den ganzen langsamen Weg die Hände vor mein Gesicht zusammen gelegt halte, mit nassen Augen diese Schönheit anbetend. Das Eingangstor des Tempels ist geschmückt mit Blumen und Duftlampen. Ein paar Nonnen und Mönche sitzen da auf einer langen Bank, mit übereinander geschlagenen Beinen, und eine junge Novizin kommt heran, legt ihre Hand begrüßend auf meinen Oberarm und fragt, ob sie mir alles zeigen darf.

Ich möchte noch erwähnen: ich habe nie eine schönere und reinere Stadt gesehen wie dieses Gyantse, und eine so kultivierte Stadt. Keine Stadt auf meinem ganzen Weg war so rein, schon gerade nicht die Städte in meinem Europa. Ja, dieses hier ist das „Reine Land“, „Sukhavati“ wie die Leute hier in der alten Sanskrit-Sprache sagen. Was das bedeutet, werde ich erfahren, es ist das Wichtigste, was ich hier lernen kann. Hier ist nichts unnötig, alles hat seinen Sinn, auch die Tiere, die hier und da auf den Straßen leben.

Heute sagen sie zu dieser Stadt, die früher Gyantse hieß, „Sukhavati“.

Und besonders der Große Tempel: ursprünglich wohl kantig gebaut, mit leicht nach unten ausgedehnter Form, fest auf dem Boden stehend, fest und sicher sieht er aus. So wie er ist, scheint er sehr neu zu sein. Doch sie sagen, das Neue wurde auf Altes errichtet, und das Alte ist uralt. Das flache Dach ist mit einer schwarzen Borte umrandet, das eckige Gebäude rot. Fenster und das Tor aber sind sehr gerundet, die Rahmen weiß. Das Eigenartigste ist die große Kuppel, die hellrot ist, aber oben drauf hat sie ein gläsernes Auge. Oder eine große gläserne Linse. Und auf jeder Seite der Kuppel haben sie eine große Schnecke gestaltet. Die Schnecken sind dunkel-beige.

Das Tor ist weit und hoch, innen geht es in den Raum der Stille, möchte ich sagen. Die riesigen Fensterscheiben sind klar, sie werden wohl oft ausgetauscht, wenn sie blind geworden sind, denn sie sind hell und kristallklar. Das hiesige Glas wird häufig blind, es ist so weich und empfindlich, und die Winde sind so voller Sand und Eiskriställchen.

Doch erst bleibe ich im Garten hier am Tempel, dort ist ein Platz, wo ich ruhen kann, einfach sitzen und nichts tun — wie die Einsiedler, die ich auf dem Weg traf. Dennoch, so einfach sagen, „Buddha ist . . . “, das ist unmöglich für mich, noch gibt es viel zu lernen, ich meine: noch muß meine Seele viel lernen. Der lange Weg von weit her. Durch viele Mühsal, die ich an den Menschen sah, durch Wüstenstaub und Gebirgsschotter. Und nun dieses Reine hier!

Innen ist der Tempel eine große Halle, gemalt in angenehmen warmen, beige und orange Farben. Die Farben an den Wänden sind frisch, immer wird irgendwo etwas neu angemalt. Dadurch haben die Wände ein Muster aus viereckigen Flecken, in leicht unterschiedlichen Rotfarben. Gegenüber dem Eingang ist eine große Figur eines Menschen, gemacht aus Bronze, denke ich. Dieser Bronzemensch sitzt mit übergeschlagenen Beinen, die rechte Hand hängt herab und zeigt auf die Erde, die linke liegt im Schoß und hält eine Schale, der Kopf trägt eine Haarknolle, auf der ein kleines Licht ist, es strahlt nach oben, hin zu dem gebogenen Fenster in der Kuppel, das Licht können wir nur sehen, wenn es dunkel ist. Am Tag kommen durch diese Kuppel Sonnenstrahlen und bescheinen den Kopf — wo immer die Sonne steht, sie werden hierhin gebündelt.

Diese Statue — wie das kleine Bild bei der Einsiedlerin, und wie die Bilder des Buddha bei uns zuhause und an vielen Stellen meiner Wanderung. Es ist ein Abbild von Shakyamuni Buddha! Der Buddha, der mit normalem Namen Shakyamuni hieß, ein Muni, das heißt ein Weiser, der Familie Shakya.

Der Raum ist sonst ganz leer, kein Schmuck, keine Duftlampen, keine Musik, einfache Fenster ohne Farben, nur diese schlichten, beige und weichen Teppiche und Kissen am Boden, auf die ich mich setze, der Figur gegenüber. Hinter der Figur des Buddha lehnt sich die Tempelwand an den Felsen, sehe ich später. Doch ich habe es schon geahnt wie ich hier sitze, da darf kein Luftraum dazwischen sein!

Ich sehe ihr in die Augen und werde still, hier bin ich zuhause, denke ich, und dann wird das Denken weniger.

Stiller wird es in meinem Kopf. Mit offenen Augen sehe ich dem Buddha ins Gesicht, mein Blick wird still, die Augen hören auf zu plinkern. Lange sitze ich so, ein Mönch bringt eine Schale mit Tee, „Buddha ist  . . .“ sagt er schlicht. Nun doch eine leise Musik, eine indische Geige  . . . Tränen kommen mir wieder und tropfen mir in den Schoß. Doch ich bleibe sitzen. Dies ist es — doch bald hört auch dieser Gedanke auf.




Schon seit langem ist es dunkel geworden, einige Lichter sind angesteckt. Ein Gong klingt, und ich sehe umher, viele Menschen sitzen nun hier, wie ich, still und leise, Lampen brennen. Wie ich stehe, auf dem weichen, beige Teppich, fühle ich die Erde tief unter mir. Aus meinem Körper strahlt es nach unten in die Erde. Und dann sehe ich das Licht aus des Buddha Haarknolle nach oben in das Kuppelfenster strahlen. Unten die Erde, das Weibliche — und oben das Männliche, der Himmel, unten die warmen Erdfarben, oben rund um die Kuppel ein starkes, männliches Blau.

Seit dem leisen Gongschlag stehen ruhig alle auf und gehen zum Tor. Eine Frau fängt an zu lachen, ein kleines Kind an zu weinen, einige tanzen zaghaft umher, jetzt lachen noch mehr, und singen fröhlich . . . und so löst sich die Stille auf. Man spielt draußen Musik zum Tanzen — sie tanzen hier ganz anders als bei uns.

Eine ältere Nonne kommt zu mir und nimmt meinen Arm, legt ihren Arm mir um die Schulter. Still gehen wir eine Weile umher im Garten des Tempels. „Du bist neu hier, ja?“ Da muß ich wieder anfangen zu weinen, ich hocke mich ins Gras und meine Augen weinen ungehemmt, und die Nonne hockt sich daneben, sie legt ihre Hand auf meinen Nacken, und noch mehr Tränen fließen. Ist es das, was uns fehlt in Europa, immer noch fehlt? Ich weine vor Glück, merke ich, und die Nonne weiß es. Wie sie mir später sagt, sind alle Neuen so, mehr oder weniger.

Ich möchte hier bleiben, ich möchte hier im Tempelgarten bleiben, nie wieder fort. Die Nonne bingt mir Decken. Es ist warm, es ist hell sternklar, Lichtschein strahlt am Himmel, und wie ich mich umdrehe sehe ich: Nordlicht, stark weiß-blaues Nordlicht, Himmelslicht. Und das im Sommer, es muß eine besondere Nacht sein.

Viele Leute liegen hier, ich merke, es ergeht ihnen so wie mir. Die Menschen kommen von weit her, viele aus Europa wie ich.

Dieses nächtliche Himmelslicht — eine besondere Nacht! Eingewickelt in meine Decken sitze ich und sehe das Nordlicht an. Ganz allein bin ich, und doch sind alle diese Leute hier, alle sitzen so wie ich. Ein Wort bildet sich von selbst in meinem Kopf, es nimmt eine Form an: „Dschampa“.

Ich weiß, Dschampa ist der Name des Buddhas der Zukunft. Die Erscheinung Buddhas, die in der Zukunft wieder da sein wird. Die seine Lehre wieder aufgreifen wird. Die uns endlich allen, allen Menschen, überhaupt allen Wesen den Weg in die endgültige Seligkeit weisen wird, in das vollständige liebevolle Mitgefühl, das sie „Karuna“ nennen, im alten Sanskrit. Vielleicht wird es dann eine neue Art von Mensch-Sein geben — oder ist dieses, was ich hier in der Stadt Sukhavati gefunden habe, bereits Dschampa´s „Neuer Mensch“? Ja, um das alles zu lernen bin ich hierher gewandert.

Ich denke, Dschampa ist das endgültige Ziel der Evolution, alle werden wir angekommen sein, die vollständige Reife ist erreicht. (siehe 2. Bericht: über den Dschampa oder Maitreya)


1. Bericht: über den Shakyamuni Buddha
Mein wichtigster Grund zu meiner langen Wanderung nach Tibet ist doch, die reine Lehre des Buddha kennen zu lernen – einmal für mich, aber vielleicht auch, um sie in meine Heimat zu bringen und das Leben dort ein wenig aufzufrischen − wenn ich je wieder zurückkehren werde, was ich gerade jetzt nicht glaube.

In meinen Jahren, die ich in Tibet lebe, meistens in Sukhavati (Gyantse), habe ich mich an viele Leute gewandt, an gelehrte Menschen und an normale.

Vielen verschiedenen Aussagen begegne ich da, ja verschiedenen Lehren, die angeblich alle von Buddha stammen sollten. Was wirklich rein ist, weiß ich erstmal nicht. Was irgendwer zu einer Zeit dazu erfunden hat und zur Lehre für sich selbst oder eine Gruppe gemacht hat, kann ich schwer erkennen. Doch ein Lama — das ist ein gelehrter Mönch — sagte mir dazu, „sieh zu, daß du ganz klar und bewußt bleibst, damit du die Wahrheit immer erkennst und nicht auf Sprüche hineinfällst, die nichts mit deiner eigenen Wahrheit zu tun haben. Für andere mögen sie gelten, aber vielleicht für dich nicht. Sei wach und aufmerksam, dann geht es.“

Ein anderer: „Wenn wir nach dem Dharma leben, ist das die einfachste Art, Mensch zu sein. Allerdings ist seit dem Shakyamuni Buddha viel Zeit vergangen, ich meine: die Menschheit hat sich sehr verändert in ihren Sitten und Denkweisen, im Allgemeinen hat sie sich weiter entwickelt.“ − Ich frage, und nun, was bedeutet dann noch die Lehre des antiken Buddha für uns? − „... kein Gott, keine Dämonen oder Feen, keine Götter, das alles ist nur in mir“ − er tickt an seinen Kopf − „hier in meinem Kopf!. Ich lebe das, was mein ganz individuelles Wesen ist. Das gilt immer, für mich, meine ich.“ Und dann: „bleibe immer ganz DU, bleibe deinem eigenen Charakter treu.“

Das ist die Mitte in diesen Menschen. Ich suche einen Geshe auf, einen Lama, der ein hoher Gelehrter ist, und mit ihm habe ich lange Gespräche, die mich aufklären. Doch, wenn ich in den alten Schriften lese, die an die Tempelmauern geschrieben sind und die ich für rein erachte, dann denke ich, was die Leute sagen, auch der Geshe, ist doch ein recht entstellte Art, dem Buddha zu huldigen. Wahrscheinlich aber ist das noch viel entstellter in meiner eigenen Heimat, in Europa. „Das Leben geht doch weiter, da werden die heiligen Lehren immer entstellt, . . . passen sich je an an das Heutige an,“ sagt der Geshe, und weiter: „was ist denn überhaupt heilig? . . . doch nur das, was Du gerade und jetzt für heilig erachtest, nichts sonst. Heilig ist keine natürliche Eigenschaft sondern nur dein Empfinden, es ist DEIN Spiel.“

Ich frage, wieso kein Gott, keine Dämonen oder Feen, keine Götter? Und denke auch an die Vogelscheuchen auf manchen Feldern, besonders in der Nähe der Klöster, die aus Götterfiguren gemacht sind, aus Dämonen-Bildern vielleicht, ja manche stellen den Buddha selbst dar. „Nimm es als ein Spiel, wir wollen uns doch erheitern, oder?“ Ist DAS die Reine Lehre? frage ich mich. „Es ist deiner Lebenskunst überlassen, wann du etwas spielst oder ganz ernst heilig machst — für dich, bei dir, in deinem Kopf, und nur für dich selbst.“ DAS ist Lebens-Kunst, denke ich.

Ich merke, daß es dieser Mangel an Lebenskunst war, was die Menschen früher so herrisch machte, und was sie drängte, anderen Menschen ihre eigenen Meinungen aufzuzwingen, wenn es so kam, mit `Schwert und Feuer und Quälerei´, wie es über die christlichen und die islamischen Herrscher hieß. Sind wir tatsächlich reifer geworden? von damals bis heute? sind wir friedlicher geworden, weil wir Lebenskunst gelernt haben?


2. Bericht: über den Dschampa oder Maitreya
Der Buddha, der diese ganze Bewegung in Gang gebracht hat, lebte als Mensch vor Tausenden von Jahren. Doch das Leben geht weiter, deswegen denken die Leute hier: das letzte Ziel der geistigen Entwicklung ist ein Buddha, der in der Zukunft wieder auftreten und alles zum Ende bereiten wird. Was ist „Zukunft“? Gibt es „Zeit“? Jedenfalls kann ich keine finden. Eine alte Nonne in einer Akademie in Buddhi-Pur (Shigatse) weist auf ein riesiges Bild von einem ehrwürdigen Mann, „wir nennen ihn Dschampa oder in Sanskrit Maitreya — wir denken uns, wie es wieder einen so großen Meister geben wird, wir wünschen uns, daß es ihn wirklich geben wird. Schon immer wünschen wir uns Dschampa herbei, wir benötigen ihn so dringend.“ Ich frage sie, wieso so dringend? „Weil die Wirkung des alten Shakyamuni-Buddha nicht ganz war, es fehlt was, vielleicht lässt die Wirkung auch nach. Mir fehlt, daß alle Menschen vollständig werden, daß es eine neue Art von Mensch gibt. Am liebsten hier und jetzt. Damals war das vielleicht noch nicht möglich, wir Menschen waren noch nicht so weit. Was denkst du dazu?“

Vielleicht, daß von Natur aus alle Menschen göttlich sind? Daß sich aber endlich mal diese alte Idee von Gott verwirklicht? Nicht mehr Gott dahinten, da oben, sondern hier, ich selbst?

„Ja, so können wir uns das denken. Doch was tatsächlich sein müsste, sein könnte, sein wird — wie soll man das wissen? Ja, wenn es ‘Gott´ schon nicht gibt, ist ‘göttlich´ doch wohl schön, dann sind wenigstens die Menschen göttlich, wenigstens die Menschen sollten göttlich sein ... doch wird ihnen das nicht zu viel? Ist uns diese Aufgabe nicht zu groß, zu schwer?“

Jemand in diesem Gesprächskreis sagte: „das Göttliche wurde ihnen schon lange zu viel, die Forderung war ihnen zu groß, möglich wäre das. Deswegen, vielleicht deswegen haben sie sich immer wieder so un-göttliche Ideen ausgedacht, haben sich ihre Religionen ausgedacht, damit sie dem Göttlichen nicht zu nahe kamen, sozusagen die Religion als Abstandshalter,“ und er lacht. „Und haben sich abgelenkt mit Hilfe von selbstgemachten Häßlichkeiten, Grausamkeiten, Zerstören, auch Kultur . . ., vielleicht haben sie gesehen, daß das alles Un-Göttlichkeiten sind  . . ., und damit kamen sie dem großen Göttlichen nicht zu nahe — bloß nicht zu nahe! Was dabei herauskam nenne ich mal zusammenfassend ‘Geschichte´, ‘Historie´, doch das sind alte Sachen, glücklicherweise.“


Es sind wohl hunderte von Generationen vergangen seit Buddha lehrte, und wer weiß wie lange es noch dauern wird, bis seine Lehre wieder ganz zu uns zurückkehren wird, bis schließlich Dschampa kommen wird. Oder wird Dschampa was ganz Neues sein? Noch nie dagewesenes? Wer kann das schon wissen? Oder ist Dschampa nur eine Idee, die unmöglich ist?

Die Großen der klassischen, vergangenen Tage lehrten uns: wir Menschen unterliegen einer steten Entwicklung, Evolution nannten sie es, `Auswickeln´: das immer Reinere, Innerste kommt zum Vorschein, das immer Göttlichere. Ist es dieses hier? Ist Dschampa der ausgewickelte, der ganz entwickelte Mensch?

Und viele Menschen aus den Ländern dieser Erde sind hier hergereist, denn Tibet ist die Mitte. Man sagt, die hier haben die längste Tradition und sind durch alle Erfahrungen gegangen, auch durch lange Kriege und Mißachtungen, durch Machtkämpfe und viel, viel Weinen und Stöhnen. Sie habe tausende von Versuchen gemacht mit der menschlichen Seele, um zu ergründen, wie der Mensch am friedlichsten sein kann, . . .  mit der eigenen Seele, und besonders mit der chinesischen Seele, die ihnen so hart mitgespielt hatte, damals, vor langen Jahrhunderten, aber unvergessen.



Morgens wird uns ein Tee gegeben und etwas später etwas Tsampa mit Schafskäse und einem dunkelgrünen Blatt, das würzig schmeckt, und ein kleiner Becher mit Joghurt. Ich gehe fröhlich zurück zu meiner Herberge und umarme zuerst meine Eselin, sie ist voller Freude mich wieder zu sehen. Diese Tiere haben ja nicht den Überblick, und sie sind so abhängig von uns Menschen, und die Furcht vor dem Verlust des Freundes kommt schnell. Ein menschlicher Freund ist für so ein Tier etwas Großes, zu dem es aufschauen kann — und muß. Ich fühle da eine große Verantwortung für dieses Tier, das mit mir lebt. Die Eselin ist so fröhlich, daß ich erkenne, sie ahnt, was ich gesehen habe in dieser Nacht. Alle Menschen, denen ich begegne, sind ebenso fröhlich — es ist wirklich etwas Besonderes geschehen.

Viele Tage lebe ich einfach das Leben im Tempel und in der Stadt, sie haben mir ein kleines Häuschen als Unterkunft gegeben, mit einem Garten für meine Eselin. Durch diese Erfahrungen finde ich mich ein, und will mich an etwas beteiligen, was nötig ist, Brot backen oder die Felder bestellen oder Steine-Hauen für neue Häuser — und natürlich gehe ich mit der Eselin täglich raus und wir sammeln Gras für den Abend für sie.

So war meine Ankunft in Sukhavati (Gyantse). Nach langer Zeit reise ich weiter, und die nächste Stadt ist Buddhi-pur (früher Shigatse), nur einige Tagereisen weiter.


3. Bericht: Nonne, Mönch und Kloster
Euch wird noch auffallen, wie oft ich Nonnen oder Mönchen begegne. In Europa sind das Wörter, mit denen wir Menschen bezeichnen, die in Klöstern leben und dort ein karges und einfaches Leben im Geiste Gottes führen. Hier ist das ein wenig anders: Es gibt keine großen Klöster, in denen tausende von ihnen leben – wie es vor der Zeit der chinesischen Besetzung war. Es gibt Klöster, doch das sind so etwas wie Ausbildungsorte für ein geistiges Leben, oder besser gesagt, ein spirituelles Leben. Das ist ja sowieso das Ziel tibetischen Lebens. Wie das aber geht, ist nicht so einfach auf der Straße gelernt oder auf dem Spielplatz.

Darum haben sie kleine Klöster gegründet, in denen das gelernt wird, sage ich mal. Da leben nicht mehr als 100 Leute, Frauen und Männer, auch viele Jungen und Mädchen. Wer so ein Kloster ein paar Jahre lang besucht hat, gehört dazu, ist Mitglied dieser Gemeinde. Auch sind die Lehrstile sehr unterschiedlich. Die Lehre des Buddha wird ziemlich unterschiedlich verstanden und ausgelegt. Klöster sind kleine Akademien, in denen die Novizen wohnen können. Fast alle Tibeter sind mal Novizen gewesen, und die meisten von ihnen sind im ganzen Leben Nonne oder Mönch. Dann werden sie `Lama´ genannt, das ist jemand, die oder der lehren kann, die Lehrbefähigung für Spirituelles hat.

Der Abschnitt Zwei steht hier: http://mein-tibet-zwei.blogspot.com/

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